Donnerstag, 21. Dezember 2017

Der einarmige Bandit: Cannondale Slate

Als in den 90ern des letzten Jahrhunderts John Tomac auf einem Mountainbike mit Rennrad-Lenker von Sieg zu Sieg geeilt ist, habe ich mein damaliges Mountainbike auch entsprechend umgebaut. Das Rad mit Hardtail Stahlrahmen und Stahlgabel bekam einem ausrangierten 44er Cinelli Lenker verpasst, das kleine, dritte Kettenblatt musste weichen und die 8-fach Shimano LX Schaltung wurde fortan mit ausgemusterten Campagnolo Ergopower Bremsschaltgriffen der ersten Generation angesteuert. Mittels einer kreativen Zugklemmung am Schaltwerk und viel Gefühl beim Schalten waren die Gangwechsel einigermaßen akzeptabel, was man von der Bremsleistung nicht behauten konnte. Egal welche Cantileverbremsen ich montierte, die Ergopower konnten ihnen keine nennenswerte Bremsleistung entlocken. Aber hey, es hat gut ausgesehen, war genau nach meinem Geschmack und für meinen Anspruch absolut ausreichend. Nicht verwunderlich, dass ich seit der Markteinführung des Cannondale Slate 2015 ein Auge auf dieses aussergewöhnliche und polarisierende Rad geworfen habe.

2017er Cannondale Slate, Größe L, 2x11 Ultegra 52/36 und 12-28
Dabei ist das Slate zunächst einmal ein richtiges Straßenrad, dass sich auf Asphalt weitgehend ohne Abstriche bewegen lässt, aber gleichzeitig auf Schotter (aka Gravel), auf Waldwegen und auf Trails eine gute Figur macht. Wer in seiner Umgebung alle Strassen kennt, hat mit dem Slate auf einen Schlag neue Möglichkeiten, oder wie es bei Cannondale heißt: "New Roads". Wo mit dem Renner Schluss ist, weil der Weg dann doch zu schlecht wird, fängt der Spass mit dem Slate erst richtig an. Natürlich ist ein Aero-Rad auf der Straße schneller und das Mountainbike geländegängiger, aber dafür sind diese Räder auf dem jeweiligen anderen Terrain weitgehend unbrauchbar. Das Slate hingegen deckt einen Einsatzbereich wie vielleicht kein anderes Rad ab und gibt dem Fahrer die Freiheit spontan zu entscheiden, welche Straße und welcher Weg eingeschlagen wird. Damit ist es das optimale Rad um neue Wege zu entdecken, einfach der Nase zu folgen und Abenteuer zu erleben.


Je nach Konfiguration hat das Slate seine Stärke eher auf der Straße oder im Gelände. Die bis zum Modelljahr 2017 verfügbaren Räder mit 2x11 Ausstattung, Straßenübersetzung (52/36 und 12-28) und Slicks sind auf Asphalt etwas stärker, die 2018er Modelle mit 1x11 Anrieb und profilierten WTB Resolute Reifen im Gelände. 

Neben der unübersehbaren Lefty Federgabel sind die 27,5 Zoll Laufräder die herausragende Besonderheit des Rades. Die 650B Reifen mit 42mm Breite haben fast den gleichen Umfang wie 28 Zoll Laufräder am Rennrad*. Dadurch fallen etwa die Kettenstreben exakt gleich lang aus wie die des Super Six Evo. Obwohl alles andere als eine neue Erfindung** sind die 650B Reifen aber auch gleichzeitig eine der Schwächen des Rades, nicht von der Handhabe oder dem Fahrverhalten her, sondern ganz simpel vom Nachschub. Die Reifen dürfen nämlich maximal etwas über vier cm breit sein um durch den Hinterbau zu passen. Damit fallen Mountainbike-Reifen aus und die Auswahl schrumpft derzeit im Wesentlichen auf einige Panaracer, Schwalbe und WTB Modelle zusammen, von denen aber nicht alle lieferbar sind. Besonders unterwegs und fern von zuhause (Radreise, Urlaub) kann das ein echtes Problem darstellen. In Thereabouts 2 muss Cameron Wurf nach einem Defekt das Abenteuer beenden und den Flieger nehmen, da bei den lokalen Händlern unterwegs kein Ersatz zu bekommen ist.

Die Reifen sind nicht das einzige "Spezialteil" an dem Rad. Der Vorbau hat ein 1,5 Zoll Maß, den es aus Aluminium in einer ausreichenden Auswahl an Längen und Winkeln und für kleines Geld gibt (etwa 30,- Euro), aber eben nur von Cannondale. Weiter geht es bei den sensationellen Hollowgram SI Kurbeln, bei denen Spider und Kettenblätter aus einem Stück Aluminium gefräst sind. Die Kurbeln sehen wirklich toll aus, sind sehr leicht (ca. 480 gr.) und ein Meisterwerk der CNC Kunst, aber auch hier handelt es sich um ein Cannondale Spezialteil, das spezielles Werkzeug (Kurbelabzieher, Spider bzw. Kettenblatt Montage) benötigt und dessen Kettenblätter im Austausch teuer und nicht überall verfügbar sind. Ähnliches gilt für die Laufräder. Die Lefty Federgabel erfordert eine spezielle Vorderradnabe. Auch diese ist nicht überall vorrätig und die Chance auf ein Laufrad-Schnäppchen sind eher gering. Darüber hinaus verlangt eine Federgabel nach Pflege und Wartung, die bei einer starren Gabel nicht anfällt.

Die Fixierung der Federgabel erfolgt durch einen Druck auf den Knopf
auf der Gabel und ist mit dem Daumen prima zu erreichen.

Ein immer noch ungewohnter Anblick: Da fehlt doch was! Und das sollt halten? Yep, hält!
Alles in allem, das muss man einräumen, sind an dem Slate eine ganze Reihe an Besonderheiten verbaut, die das Rad aussergewöhnlich machen. Stellt sich die Frage, ob diese Besonderheiten es wert sind, je nach Modell um die 3.000 Euro zu bezahlen? Wie fährt er sich, der einarmige Bandit?

Wenn man auf das Rad steigt, fällt zunächst die etwas entspanntere, aufrechte Position und der mit 45 cm (Mitte - Mitte) recht breite Lenker auf. Beides ist abseits der Straße aber genau richtig. Das Lenkerband ist zwar super-griffig, könnte aber mehr gepolstert sein. Mit dem recht weichen Fabric Sattel komme ich gut zurecht.

Fährt man los, fällt der gute Geradeauslauf auf. Kurven bedürfen eines gewissen Nachdruckes, um das Rad zum Einlenken zu bewegen. Nach diesem ersten Impuls geht das Rad aber wie jedes andere um die Kurve. Die breiten Slicks geben ein wunderbar komfortables Fahrgefühl ohne irgendwie schwammig zu wirken. Ich fahre die Räder in der original Konfiguration mit Schläuchen und mit drei Bar eher stramm aufgepumpt. Die mechanische Ultegra Schaltung funktioniert wie nicht anders erwartet tadellos und unauffällig. Das Gleiche gilt für die hydraulischen Scheibenbremsen. Die Ultegra Bremsschaltgiffe liegen gut in der Hand und sind dafür, dass darin ein Hydraulikzylinder und die mechanische Schaltung verbaut sind, erstaunlich schlank.


Sobald man ins Gelände abbiegt, zeigt die Lefty Oliver, welchen Unterschied 3cm Federweg machen. Auch wenn ich keine umfangreiche Testreihen gefahren bin, geschweige denn von Vergleichen mit anderen Rädern, so lässt sich doch festhalten, dass das Slate in schnellen Offroadpassagen sehr gut kontrollierbar bleibt und den meisten Stößen und Erschütterungen die Härte genommen wird. Arme und Hände ermüden so sehr viel später, man ist entspannter und fühlt sich länger Herr der Lage. Bergauf lässt sich die Gabel mit einem Daumendruck blockieren. Der Rebound lässt sich ebenfalls einfach und während der Fahrt anpassen. Die Slicks bieten erstaunlich viel Grip und geraten lediglich auf nassem Laub und im Schnee an ihre Grenze. An wirklich steilen Anstiegen im Gelände ist die 36x28 Übersetzung natürlich schnell zu schwer. Da ich aber mehr auf der Straße als im Gelände fahre, bevorzuge ich die enge Abstufung des klassischen 2x11 Antriebes gegenüber der Geländegängigkeit des 1x11 Antriebes (44 x 11-42). Das Schaltwerk ist offiziell bis maximal 28 Zähne freigegeben, der Mechaniker meines Vertrauens hat mir aber zugesichert, dass auch das kurze Schaltwerk 32 Zähne packt. Im Zweifel ist für relativ wenig Geld ein Schaltwerk mit mittelengem Käfig montiert.


So lassen sich die Stärken des Slate mit geringem Auswand verschieben. Mit Slicks, semi-kompakt Kurbel und Standard Kassette hat man ein prima Straßenrad, mit dem man trotz der 9,5 Kilo bedenkenlos Radmarathons in Angriff nehmen kann. Mit profilierten Reifen, Tubeless Set-Up, Kompakt Kurbel und breit gespreizter Kassette oder 1x11 Antrieb fährt man im Gelände nicht viel schlechter als mit einem Hardtail Mountainbike.

Auf Instagram wurde ich gefragt, ob auch 29 Zoll Räder in das Rad passen. Mit 30 mm Conti GP Reifen hätte man dann einen wirklich schnellen Satz für die Straße. Ich konnte das nicht probieren, aber es sollte eigentlich nichts dagegen sprechen, der Platz sollte ausreichen.

Ein Rad für alles! Würde ich es mir wieder kaufen? Ja, jederzeit. Meines stammt von Wheelsports in Weselberg.

Mehr Bilder auf Flickr:

Cannondale Slate


* Ich habe 208 gegenüber 212 cm mit 25mm Conti GP Reifen gemessen.

** Einige interessante Artikel über das Für und Wider der verschiedenen Reifengrößen mit besonderem Gewicht auf 650B etwa hier, hier und hier. 650B ist die Reifengröße, die schon in den 50ern bei französischen Rondoneur-Rädern verwendet wurde.

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