Samstag, 6. Juni 2020

Alles wird gut

Design wird ja oftmals als die Gestaltung der Hülle eines Gegenstandes, die Bestimmung von Farben und Mustern wahrgenommen und damit auf ein Synonym für "gut aussehen" reduziert. Dabei ist Design so viel mehr. In der Wikipedia findet sich diese Definition:

Design beinhaltet eine Vielzahl von Aspekten und geht über die rein äußerliche Form- und Farbgestaltung eines Objekts hinaus ... Insbesondere umfasst es auch die Auseinandersetzung des Designers mit der Funktion eines Objekts sowie mit dessen Interaktion mit einem Benutzer. Im Design-Prozess kann somit unter anderem Einfluss auf die Funktion, Bedienbarkeit und Lebensdauer eines Objekts genommen werden, was im Besonderen beim Software- und Produktdesign relevant ist.

In der Neuen Sammlung ist an einer Stelle zu lesen:

Gestaltung ist nie unschuldig. Ob sie wollen oder nicht: Designer verhalten sich mit der Art, wie sie mit Materialität, Herstellungsbedingungen, Vertriebsformen umgehen, bewusst oder unbewusst immer auch zur gesellschaftlichen Ordnung. Als absichtlicher Gestaltungsprozess unserer Umwelt ist Design nie frei von Verantwortung.

Was es wirklich bedeutet, wenn Designer diese Verantwortung annehmen, freie Hand haben und von der Idee bis zum fertigen Produkt Entscheidungen treffen, habe ich im vergangenen Sommer in München erfahren.

Irgendwann Anfang Juli 2019 bekam ich Post: "ALLES IST GUT. Daher lade ich Euch ganz herzlich zum offiziellen Marken-Launch ein. ... 03.08.19 18:00 Uhr ... München ... Mit dem Lift in den 10. Stock. Dazu Pin-Code ... eingeben ... Anschließend dem roten Faden folgen. Ich freue mich, Sandra."

Nun muss ich vielleicht noch erzählen, wie es überhaupt zu dieser Einladung kam. Im April 2018 habe ich an dieser Stelle über Schönheitsideale geschrieben. Dabei ging es um Instagram Accounts, nach deren Konsum man die Realität der sonntäglichen Clubausfahrt nur schwer erträgt. Einer der genannten Accounts war der von Sandra aka Velo.Addicted. Seit dem haben wir gegenseitig unsere Instagram Posts geliked und 2019 brachte es mich auf die Liste der "Friends & Family", die zum offiziellen Start von Sandras eigener Marke eingeladen wurden. Details wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Irgendetwas mit Radfahren wahrscheinlich, aber was genau und selbst der Name der Marke waren eine Überraschung. Aber warum nicht, manchmal bin selbst ich für "Abenteuer" zu haben. Flug und Hotel waren schnell gebucht und Anfang August war ich in München und folgte tatsächlich dem roten Faden.

Nach dem Studium des Produktdesigns an der Hochschule München gründete Sandra Paul 2010 ihr eigenes Designbüro und war in den Folgejahren unter anderem für namhafte deutsche Großkonzerne tätig, bevor sie mit einem mutigen Schritt ihren Traum verwirklichte und "ihr ganz eigenes Ding" startete. Mit völliger Freiheit über den kreativen Prozess begann Sandra 2017 die Arbeit an VON BROKK. Herausgekommen ist eine Produktlinie von Alltagsgegenständen, die alles, aber nicht alltäglich ist. Das besondere Markenzeichen ist dabei der sprichwörtliche rote Faden, der sich in der ein oder anderen Form in jedem Produkt wiederfindet. Alle Gegenstände sind durch den Radsport inspiriert und fangen das Lebensgefühl des Lebens auf schmalen Reifen ein.




Während der Feier zum Launch von VON BROKK konnte ich mich eine Weile mit Sandra unterhalten und aus erster Hand erfahren, wieviele Überlegungen auch in kleinsten Details stecken und wie weit sich der Bogen des Produktdesigns spannt. Das beginnt bei der initialen Idee und dem Konzept der Marke an sich, geht weiter über den Entwurf einzelner Produkte, deren Gestaltung und Einbettung in das übergeordnete Thema, der Auswahl der Materialien, die Suche nach Herstellungsprozessen und Herstellern. Die Webseite, die Bilder, die verwendete Schriftart, das Firmenmotto "ALLES IST GUT", nichts ist beiläufig oder beliebig, alles fügt sich unter einer Formensprache zu einer Gesamtheit zusammen. Selbst die Verpackungen sind nicht irgendwelche Kisten, sondern bestehen aus besonders hochwertiger Kartonage, die zu schönen Schachteln gefaltet und von Hand genietet werden. Nach dem Auspacken des Produktes haben die Kartons noch lange nicht ausgedient und können zur Aufbewahrung genutzt werden. Alle Produkte werden in Deutschland gefertigt und genügen höchsten Standards an Nachhaltigkeit und sozialer Verantwortung. Das alles hat natürlich seinen Preis. Berücksichtigt man aber Qualität und handwerkliche Güte, kann man nur zu dem Schluss kommen, dass alles seinen Preis wert, also preiswert im besten Sinne, ist.

Wie vielen anderen hat die Corona-Krise auch Sandras Pläne für 2020 beeinträchtigt. Die geplante Teilnahme an der Cycling World in Düsseldorf ist ebenso ausgefallen wie die Eröffnung des Showrooms in Landsberg verschoben wurde. Auf einmal war nicht mehr alles gut. Die ganze Welt steht einer neuen, zuvor undenkbaren Realität gegenüber, der man trotz allem am besten mit Optimismus und der festen Überzeugung gegenüber tritt, dass (irgendwann) alles wieder gut wird.

Um dieser Situation Ausdruck zu verleihen gibt es derzeit eine Sonderserie an AWG ("ALLES WIRD GUT") T-Shirts. Die Linie auf der Rückseite ist übrigens die angedeutete Rückentasche, die es bei den 220er Shirts von VON BROKK in echt gibt. (Wie toll ist das denn bitte?) Und hoffentlich können wir dann alle in nicht allzu ferner Zukunft wieder sagen:

ALLES IST GUT



PS.: Die Rennräder, die im Hintergrund der Fotos auf der Webseite zu sehen sind, stammen übrigens alle aus dem Besitz der Designerin, die nicht nur mit Heldenkurbel Rad fährt, sondern auch Rennräder sammelt!

PPS.: Die Zeit in München habe ich auch zu einer ausgedehnten Tour (Viva Bavaria) im Voralpenland genutzt. Bei der Wahl der Strecke habe ich mich von den Lieblingstouren inspirieren lassen. Das Rad habe ich bei Bikedress gemietet, ein tolles Geschäft mit angeschlossenem Radsport Café. Exzellenter Espresso und sehr fairer Preis für ein Rad mit Powermeter. Darüber hinaus habe ich mir am Folgetag die volle Kulturdröhnung gegeben und sowohl die Alte Pinakothek als auch die Pinakothek der Moderne besichtigt. Bei letzterer ist im Zusammenhang mit diesem Post natürlich insbesondere die Neue Sammlung erwähnenswert, die als die größte Designsammlung der Welt gilt. Sonntags kostet der Eintritt übrigens nur einen Euro! Ach, noch ein "Fun-Fact" zum Schluss, habt ihr gewusst, dass die Redewendung vom roten Faden auf Goethe zurückgeht?

PPPS.: Das Shirt habe ich mir ganz alleine und selber gekauft. Nicht das hier Missverständnisse aufkommen. Nachdem ich am 1. Mai mit dem Rad ordentlich gestürzt bin und mir dabei zum ersten mal überhaupt das Schlüsselbein gebrochen habe, rede ich mir nämlich unablässig selber ein, dass alles wieder gut wird und ich bald, nun als richtiger Radfahrer (weil: Schlüsselbein gebrochen), wieder im Sattel sitze.

Montag, 1. Juni 2020

Recovery!

Training und Erholung sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Das Eine geht nicht ohne das Andere. Wer immer nur trainiert und den Körper belastet, wird früher oder später unter der Last zusammenbrechen und im schlimmsten Fall mit einem Übertrainingssyndrom enden. Wer sich immer nur erholt und auf dem Sofa sitzen bleibt, tut sich auch keinen Gefallen.

Während im Training nichts ohne harte Arbeit passiert, stehen Sportlern zur Verbesserung der Erholung unzählige Hilfsmittel und Methoden zur Verfügung. Kopfkissen, Matratzen, Kompressionskleidung, Eisbäder, Massagen, Infrarotsaunen, Nahrungsergänzungsmittel, Elektrostimulation, "Recoveryboots", Faszienmassage-Rollen, und und und. Die Liste läßt sich beliebig fortsetzen. Noch länger ist nur die Aufzählung der versprochenen Effekte. Entzündungsprozesse sollen gestoppt werden, Laktat soll verschwinden, Nährstoffe sollen den Körper wieder aufbauen ...

Könnte man all die angepriesenen Effekte kumulieren, der Gewinn der Tour de France wäre ein Kinderspiel. Aber vielleicht wirkt es ja doch? Zumindest ein bisschen? Jeder benutzt doch das ein oder andere Revovery-Tool! Ich etwa habe eine ganze Batterie an Faszienrollen und -kugeln, ein EMS Gerät, eine Matte um den Schlaf aufzuzeichnen und auszuwerten, nehme nach harten Einheiten einen Recoveryshake, ziehe manchmal Kompressionsstulpen an und mache regelmäßig und mit Begeisterung Stretching.

Aber hilft es wirklich? Sind die wissenschaftlich klingenden Marketingtexte der Hersteller belastbar? Wo ist das Geld sinnvoll investiert und wo ist es aus dem Fenster geworfen?


Antworten auf diese Fragen finden sich in dem 2019 erschienen Buch "Good to go - How to eat, sleep and rest like a champion" von Christie Aschwanden. Die Wissenschaftjournalistin und Ausdauersportlerin hat hunderte von wissenschaftlichen Studien gelesen, mehr als 250 Interviews geführt und alle erdenklichen Recoverymethoden im Selbstversuch getestet. Das Buch hat dabei das Zeug, dem Leser in Zukunft viel Geld zu sparen. Denn das Wenigste, was die Recovery-Industrie den Sportlern verkaufen möchte, geht über den Placebo Effekt hinaus. Auf rund 250 Seiten wird insbesondere deutlich, dass viele von Herstellern zitierte "Studien" mit mehr als nur Vorsicht zu genießen sind. Schwaches Design und falsche Fragestellungen lassen Ergebnisse, manchmal unabsichtlich, in einem günstigen Licht erscheinen, sind am Ende aber nicht mehr und nicht weniger als ein Marketing-Gag.

Einen Vorgeschmack auf das Buch bietet das Gespräch zwischen Prof. Ross Tucker und Christie Aschwanden im "The real Science of Sport"-Podcast: Why everything you know about recovery may be BS Absolut hörenswert!

Das Buch ist derzeit nur in der Originalausgabe in Englisch verfügbar. Verlagseite