Schmale, harte Sättel gehören genauso zum Rennradfahren wie dünne Reifen, rasierte Beine und bunte, hautenge Sportkleidung. Dass es sich auf solchen Sätteln bequem sitzen lässt, gehört für die nicht radfahrende Bevölkerung zu einem der großen Radsport-Mysterien. Und in der Tat sind die ersten Versuche auf einem Rennrad oftmals sehr, nun ja, schmerzvoll oder doch zumindest unangenehm. Nach einer anfänglichen Eingewöhnung sitzt es sich dann aber meist überaschend gut. Manchmal bedarf es einiger Versuche, bis sich der richtige Sattel, die sich in Breite, Form und Polsterung unterscheiden, gefunden hat. Allen Modellen und Herstellern gemein ist allerdings, dass man im wesentlichen auf den Sitzbeinen sitzt, die beanspruchte Fläche ist recht klein und der Druck auf das wenige Gewebe zwischen Haut und Knochen recht hoch.
In seltenen Fällen kann dieser ständige Druck in Verbindung mit der Reibung, Verletzungen der Haut und des Bindegewebes im Dammbereich Veränderungen im Gewebe auslösen. Von diesen “Cyclist Nodule” genannten, gutartigen Tumoren können Frauen genauso wie Männer betroffen sein. Die meisten Tumore sind dabei unter drei Zentimeter groß, können aber auch sechs Zentimeter erreichen. Aufgrunde der Größe und Plazierung werden sie auch als dritter Hoden (“Third Testical”) bezeichnet. Je nach Fortschritt der Krankheit gibt es verschiedene Optionen, eine davon ist die operative Entfernung des kranken Gewebes. Abseits des Rades treten typischerweise keine Beschwerden auf. Auf dem Rad kann die "Radfahrer Beule” den Spaß im Sattel aber gänzlich zunichte mache, was ich vor einigen Jahren leidvoll erfahren habe.
Während meiner Jugend und Amateurezeit hatte ich mit dem Sitzen auf dem Rad nie die geringsten Probleme. Nach längerer Pause und vielen Jahren mit sehr wenigen Kilometern ging es 2014 wieder los mit dem Radsport. Irgendwann fing es dann aber an, dass das Sitzen unbequem war. Zunächst wenig und nur ab und zu, wurde es mit der Zeit immer schlimmer und verleidete mir den Spaß am Radfahren. Zuletzt fühlte es sich an wie ein rostiger Korkenzieher, der langsam bis auf den Knochen gedreht wird. Erst sehr spät fiel mir auf, das sich unter dem linken Sitzbein eine deutliche Wulst mit einem innenliegenden, harten Knoten gebildet hatte. Zunächst waren die Ärzte recht ratlos, was es mit dem etwa zwei Finger tiefen Bindegewebsüberschuss auf sich hatte. Nach einer Weile fand sich dann aber ein Chirurg, der die richtige Diagnose stellte, das Skalpel zückte und mich von der "Radfahrer Beule” befreite.
Nach der Entfernung des Tumors unter Vollnakose konnte ich nach einigen Wochen wieder auf dem Rad sitzen. Anfang zwickte die Narbe etwas, aber im Großen und Ganzen konnte ich wieder schmerzfrei fahren. Etwa zwei Jahre später kamen die Schmerzen aber zurück und die Beule war wieder so groß wie vor der OP. Eine weitere Operation schaffte Abhilfe, bis ich mir in diesem Jahr an Ostern auf einer 200 km Trainingsrunde eingestehen musste, dass entweder eine dritte OP oder eine andere Lösung hermusste.
Da fiel mir eine Kickstarter Kampagne ein, die einige Jahre zurück Geld für einen recht merkwürdigen Sattel eingesammelt hatte. Dieser "Infinity Seat” hat dort, wo sich bei allen anderen Sätteln die Sitzfläche befindet, einfach nur eingroßes Loch, übrig bleibt lediglich die Kontur eines Sattels. Da ich eine unmittelbare Lösung suchte und mir das Problem den Schlaf raubte, stand ich noch in den Nacht nach der 200 km Runde im Pyjama im Fahrradkeller und habe mit der Bohrmaschine und einem Cutter aus einem alten Sattel ein gutes Stück aus der linken Sitzfläche herausgeschnitten. Die nächste Trainingsrunde zeigte, dass es sich um ein erfolgversprechendes Konzept handelte. Noch am gleichen Tag habe ich den “Infinity Seat” bestellt.
Der Sattel ist nur direkt vom
Hersteller in den USA zu beziehen. Die 2019er Modell Palette umfasst drei Varianten zwischen 297 und 397 USD. Hinzu kommt der internationale Versand, die Einfuhrumsatzsteuer und Zollgebühren, deren Höhe von der angewendeten Produktkategorie abhängt. In meinem Fall konnte ich einen “Promo-Code” nutzen und bezahlte vergleichsweise günstige 201,04 Euro für den Sattel, dazu kamen 4,7% Zoll (Zolltarif
87149500, Sättel für Fahrräder) und 40 Euro EUST. Kein günstiger Spaß, aber besser als nicht mehr Radfahren zu können.
Trotz der vielen Luft wiegt der Sattel etwa genausoviel wie alle anderen Standartsättel auch (Infinity 222gr, Ergon 216gr, Fizik 227gr). Die Länge ist ebenfalls vergleichbar, nur in der Breite hat der Infinity etwa einen Zentimeter mehr. Bei der Montage des Sattels steht man vor der Herausforderung, dass die üblichen Messpunkte auf der Satteldecke fehlen. Die Anleitung empfiehlt für die Längsverstellung stattdessen das Maß vom weitesten Punkt des alten Sattels bis zum Lenker zu nehmen und das Gleiche für den Infinity Seat zu machen. Das Gestell des Sattels ist in der neutralen Position genau waagerecht, das lässt sich sehr leicht messen. Die Sattelstütze soll um 1/8 bis 1/4 Inch (ungefähr 3,2 bis 6,4 mm) abgesenkt werden. Das fand ich deutlich niedriger als vorher und habe die Sattelstütze daher auf der gleichen Höhe wie mit dem Ergon Sattel gelassen.
Der große Moment kommt, wenn man zum ersten Mal Platz nimmt. Um es kurz zu machen: Man sitzt wie auf einem Sofa, zumindest verglichen mit anderen Sätteln! Dadurch, dass die Sitzbeine komplett entastet sind und man auf der umgebenden Muskulatur sitzt, fehlt der übliche Druckpunkt. Mein erster Eindruck war daher: Wow, das funktioniert ja tatsächlich! Die folgende Probefahrt machte dann aber deutlich, dass der Sattel doch etwas Eingewöhnung braucht. Durch die breitere Bauweise und die konkave “Sitzfläche” sitzt man sehr viel fixierter auf dem Sattel. Es ist zwar weiterhin möglich die Position etwas zu variieren und weiter vorne oder hinten zu sitzen, die “Nullposition” auf dem Infinity Seat ist allerdings sehr ausgeprägt. Eine Positionsverschiebung verändert darüber hinaus den Winkel des Beckens und des unteren Rückens: Sitzt man weiter hinten, ist das Becken nach vorne abgekippt und der Rücken flacher, weiter vorne und Becken und Rücken sind aufrechter. Ein weiterer Nebeneffekt ist der ausgeprägte Wiederhalt nach hinten, hilfreich wenn man große Gänge aus dem Sitzen “drückt”, etwa bergauf. Störend dürfte der Sattel vielleicht für Mountainbiker sein, die bei steilen Abfahrten ihre Position hinter den Sattel verlagern, aber vielleicht ist auch das nur eine Frage der Gewöhnung. Trotz der ausgefallenen Form ist der Sattel mit den
UCI Regularien konform, zumindest finde ich nichts Gegenteiliges.
Ob der Sattel bei Druckproblemen im Dammbereich ebenfalls eine Lösung ist, kann ich nicht sagen. Mit Taubheitsgefühlen und Druckstellen, die andere Hersteller mit allen möglichen Rillen und Spalten bekämpfen, hatte ich noch nie Probleme. Da die Öffnung des Infinity Seat’s aber weit bis zur Sattelspitze geht, wird er vielleicht auch in diesen Fällen hilfreich sein.
Für meine Sitzbeschwerden war und ist der Infinity Seat in jedem Fall DIE Lösung, dass hätte ich schon viel früher machen sollen! Ich kann ohne Schmerzen sitzen und Touren über drei Stunden entspannt entgegensehen. Die Schwellung des Bindegewebes ist weitgehend verschwunden. Ob die immer noch vorhandene Verhärtung vielleicht trotzdem entfernt werden sollte, wird abzuklären sein.
Als vor einigen Monaten ein gebrauchter Infinity Seat der ersten Generation in einer Facebook Gruppe gebraucht angeboten wurde, griff ich direkt zu. Seitdem hat auch der
Einarmige Bandit einen "Unendlichkeits Sattel”. Und zu guter Letzt sind meine Räder jetzt wirklich unverwechselbar und sorgen immer wieder für interessierte Fragen!