Samstag, 14. Januar 2017

EMS und TENS - Raketentechnologie oder Hokuspokus?

Das Versprechen klingt toll. Man klebt sich Elektroden auf die Haut, schließt über Kabel ein kleines Gerät an, wählt ein Programm, lehnt sich zurück und schaut seinen Muskeln beim Wackeln zu. Das soll dann je nach Programm gegen Schmerzen helfen (TENS, transkutane elektrische Nervenstimulation) oder zur Entspannung oder Training beitragen (EMS - Elektromyostimulation). Beides lässt sich unter dem Begriff Reizstrom zusammenfassen und wurde bereits um 1900 von dem Physikochemiker Walther Nernst untersucht (Wikipedia). In einer Bachelor Arbeit zum Thema EMS führt Uwe Marsch auf, dass sich die Anfänge der Elektrotherapie sogar bis in die Antike zurückverfolgen lassen. Damals hat man sich Zitteraalen, -Rochen oder -Welsen bedient.

Das an der Geschichte mit dem Strom etwas dran ist, lässt sich nicht leugnen. Herzschrittmacher sind so gesehen auch nichts anderes als EMS Geräte: Ein Stromimpuls löst eine Muskelkontraktion aus, in diesem Fall die des Herzmuskels. Zuviel Strom ist aber auch nicht gut, wer schon mal beim Arbeiten an der Elektroinstallation eine "gehuscht" bekommen hat, weiss, dass sich das ganz und gar nicht angenehm anfüllt. Wer nach solch einem Zwischenfall nur kurzfristiges Kribbeln zu beklagen hat, kann von Glück sprechen. Denn die Signalverarbeitung in unser Körper funktioniert mit Strom, vom Gehirn zu den Muskeln genauso wie umgekehrt. Ob wir den Arm heben oder in die Pedale treten, ob sich die Beine schwer oder leicht anfühlen alles wird mit Nervenimpulsen gesteuert. Ein zu viel an Strom kann da sehr schwerwiegende Folgen haben.

Nun muss ich eingestehen, dass Strom für mich ein Buch mit sieben Siegeln ist. Es gibt Ampere, Volt, Wellenformen und Frequenzen. Meinen Physiklehrern ist es nie gelungen, mir das irgendwie verständlich zu vermitteln. Vielleicht hat es mich damals auch einfach nicht interessiert. Wahrscheinlich war ich in Gedanken beim Radfahren.

Wie auch immer, den Umstand, dass Nervenimpulse im Prinzip nichts anderes als elektrische Ströme sind machen sich Reizstrom Geräte zunutze. Je nach Anwendung versucht man damit die Muskulatur oder das Schmerzempfinden zu manipulieren. Die Signale aus dem Gehirn werden mit Signalen aus der Dose ersetzt bzw. überlagert oder verstärkt.

Die Bandbreite an mobilen Reizstrom Geräten für den Hausgebrauch ist dabei immens. Das fängt bei 30 Euro für einfache Geräten mit zwei Kanälen an und endet bei weit über 1.000 Euro für die besten  Modelle des Markführers Compex mit allem Pi-Pa-Po. Worin liegt der Unterschied? Denn Strom ist ja Strom, oder? Elektronen fließen vom Minuspool zum Pluspool. Was kann ein Compex besser ein günstiges Model? Und wie fühlt sich das mit dem Reizstrom überhaupt an?

Sanitas SEM 44

Um das herauszufinden habe ich mir letztes Jahr bei Amazon für um die 40 Euro ein Sanitas SEM 44 gekauft. Ein EMS / Tens Gerät mit zwei Kanälen und 44 verschiedenen Programmen. Zwei Kanäle bedeutet dabei, das man zwei Elektroden Paare anschliessen und getrennt steuern kann. Die Anleitung ist nicht sehr umfangreich, erklärt aber ganz gut einige Grundlagen der Reizstrom-Anwendung und gibt Auskunft zur Elektroden Platzierung und Anwendung des Gerätes (hier online). Das Gerät wird von drei AAA Batterien gespeist, die bis jetzt noch kein Anzeichen nachlassender Spannung zeigen. Die Bedienung ist weitgehend selbsterklärend, lediglich zum Nachschlagen der Bedeutung der Programme benötigt man die Anleitung. Massage 7 ist zum Beispiel ein Programm zur Schultermassage. Das Pictogram zeigt an, wo die Elektroden in etwa platziert werden, die Anleitung hält aber auch hier genauere Informationen bereit.


Bisher habe ich das Sanitas hauptsächlich zur Entspannungsmassage und zur Schmerzbehandlung an der Schulter und in den letzten Wochen am Bein verwendet (wegen der Geschichte mit der Leiter). Einige wenige Male auch zum Aufwärmen vor einem Rennen. Die EMS Trainingsprogramme habe ich nicht probiert. Die ersten Male fand ich das Ganze etwas gewöhnungsbedürftig und es dauert ein bisschen, bis alle jeweils in Frage kommenden Programme durchprobiert und die gefunden sind, die individuell am angenehmsten sind. Es gibt nämlich auch durchaus welche, die das nicht sind. Insgesamt kann ich gegen das Sanitas nichts sagen. Die grundlegende Frage, ob Reizstrom für mich überhaupt in Frage kommt kann ich mit ja beantworten. Vor dem Fernseher sitzen und die Beine zur Entspannung wackeln lassen fühlt sich gut an. Ob es etwas bringt, das ist eine ganz andere Frage, dazu später mehr.

Compex SP 6.0

Die nächste Frage ist nun, sind teure Geräte besser? Was kann der Marktführer Compex, was Sanitas nicht kann? Compex Geräte fangen bei 199 Euro an (Listenpreis Fit 1.0), das Spitzenmodell kostet stolze 1299 Euro. Strom ist Strom, oder nicht? Darüber habe ich mich im Oktober letzten Jahres bei der SportMedica in Luxembourg mit einem der Aussteller unterhalten. Gerardo Simoes von CenterMed hat sich meinen überaus kritischen und hartnäckigen Fragen geduldig gestellt und mir angeboten, mir meine Fragen detailliert zu beantworten und ein Compex Gerät zum testen auszuleihen.

Gesagt, getan, Ende des Jahres bin ich nach Luxembourg zu CenterMed gefahren und habe mir die Compex Geräte erklären lassen. Compex kommt aus der Schweiz und feierte 2016 sein 30 jähriges Firmenjubiläum. Heute gehört Compex zu DJO Global, einem weltweiten Anbieter von Gesundheitsprodukten aus den USA. Auch ohne irgendwelche Branchendaten zu kennen, kann man Compex wohl zu Recht als Marktführer bei der Elektrostimulation bezeichnen, zumindest für den Endverbraucher-Markt. Wer sich so lange mit hochpreisigen Produkten auf einem Markt behaupten kann, der sicher anfällig ist gegenüber günstigen Nachahmer Produkten, muss einiges richtig machen.

Das Samsung Desaster mit den in Flammen aufgehenden Handys hat vor Augen geführt, dass es bei der Konstruktion und Verarbeitung von elektronischen Bauteilen wirklich darauf ankommt, keine Fehler zu machen. Ein Handy hat man "nur" in der Hand oder in der Tasche, bei Reizstromgeräten klebt man sich Elektroden auf die Haut und schickt Strom in seinen Körper. Dort sollte dann alles stimmen. Kabel und Verbindungen dürfen keine Wackelkontakte haben, die Akkus oder Batterien müssen die Spannung ohne Schwankungen abgeben und die verbaute Elektronik muss tadellos funktionieren. Das alles traue ich den Compex Geräten unzweifelhaft zu.

Als weiteren Vorteil führt Compex die Art des Stromes an. Compex verwendet ausschließlich einen biphasischen Strom, dabei fließen die Elektronen zunächst von Elektrode A nach B und dann gleich wieder von B nach A. Wenn man das ganze grafisch darstellt sieht das ungefährt so aus:

Bi-Phasischer, symmetrischer Strom

Die Flächen sind dabei jeweils symmetrisch und die Spannung baut sich nicht langsam auf, sondern ist direkt da. Dadurch soll der Strom besonders schonend und schmerzfrei unter die Haut kommen. Bi-phasischer Strom an sich ist dabei allerdings kein Compex Alleinstellungsmerkmal, jeder Defibrillator und auch das Sanitas Gerät nutzt diese Art von Strom. Therapeutische Reizstromgeräte haben hier oftmals eine große Auswahl an verschiedenen Kurven.

Um das auch in der Praxis testen zu können, hat mir Centermed für eine gute Woche ein Compex Sport 6.0 ausgeliehen. Dieses zweithöchste Model der Compex Hierarchie ist wireless, die Elektroden sind nicht über Kabel mit der Steuereinheit verbunden. Stattdessen gibt es vier Paar Impulsgeber, die jeweils mit einem Kabel untereinander verbunden sind und direkt an den Elektroden befestigt werden. Das ist insbesondere dann von Vorteil, wenn man mit dem Gerät ein EMS-Training durchführt.



Das Display der Bedieneinheit ist gut abzulesen und hell beleuchtet. Das Menü führt durch die Programme und gibt ausreichende Hinweise zur Platzierung der Elektroden. Eine echte Besonderheit der Compex Geräte sind die unterschiedlichen Mi Funktionen. Dabei wird der Widerstand der Muskulatur gemessen und die Einstellungen des jeweiligen Programms optimiert. Insgesamt gibt es vier Mi-Features: Scan, Range / Autorange, Tens und Action. Alle sind aber nur bei dem teuersten Gerät enthalten, die einfachen Modelle verzichten auf diese Funktionen

So weit, sehr schön, sehr schick. Wie fühlt es sich an? Tatsächlich hatte ich im direkten Vergleich den Eindruck, dass der Compex angenehmer ist als der Sanitas. Letzterer "zwickt" schon mal etwas. Wirklich aufgefallen ist mir das aber nur mit dem Compex an einem Bein und dem Sanitas an dem anderen. Beides waren Massageprogramme, die mir recht ähnlich erschienen.

Als nächstes hat mich interessiert ob bei einem EMS Training die Parameter Puls und Sauerstoffsättigung in irgendeiner Weise anspringen. Dazu habe ich an den Oberschenkeln ein Endurance Trainingsprogramm in Ruhe durchgeführt, ohne weitere Aktivität. Es finden sich zwar Videos in denen EMS Programme auf dem Hometrainer gefahren wurden, allerdings habe ich keine detaillierte, offizielle Dokumentation gefunden, die die Vorgehensweise erklärt hätte.

So hat das dann ausgesehen, unter dem schwarzen Klebeband ist der BSX Insight.



Grün ist SMO2, rot der Puls. Das Programm hat nicht die kompletten 55 Minuten der Grafik gedauert, sondern war etwas kürzer. Ich habe leider keine Marker gesetzt. Aber auch so sieht man, dass der Puls weitgehend zwischen 65 und 70 Schläge bleibt und die Sauerstoffsättigung leicht ansteigt. Körperliche Belastung sieht anders aus. Der Muskel wird zwar bewegt, ob das aber einen Trainingseffekt hat, Waage ich zu bezweifeln.

Vielleicht ist das ähnlich wie Radfahren mit starrem Gang, wenn man dort "rollen" lässt, drehen sich die Beine ja auch ohne dass man Arbeit im eigentlichen Sinn verrichtet.

Um ein wirklich fundiertes Fazit fällen zu können war mein Test viel zu kurz. Dazu müsste man ein solches Gerät zumindest ein halbes Jahr testen. Aber auch das wäre subjektiv. Daher empfiehlt es sich einen Blick in sportwissenschaftliche Studien zu werfen. Compex verlinkt auf seiner Seite einige Studien die die Wirksamkeit der Elektrotherapie im Allgemeinen und der Compexgeräte im Besonderen belegen. Stellt sich die Frage ob es auch Studien gibt die die Wirksamkeit nicht nachweisen konnten? Wie schätzen Wissenschaftler die Sachlage ein?

Das kann Benjamin von Wattsbehind sehr viel besser beantworten als ich. Benjamin liest sportwissenschaftliche Studien als Student der Sportwissenschaft ja sozusagen von Berufswegen.

Hier geht es zum zweiten Teil >  Elektromyostimulation - Fitter werden auf der Couch?

Fazit


Es ist keine Frage, der Compex ist um Klassen besser als der Sanitas und hat sich tendenziell auch angenehmer angefühlt. Wenn man sich für das Thema begeistert und es mag, kann man durchaus das Geld für einen Compex ausgeben. Es muss ja nicht unbedingt das teuerste Gerät sein. Mit Kabel funktioniert genauso gut, das ist in erster Linie eine Frage des Komforts. Auf der anderen Seite sind 40 Euro für das Sanitas oder etwas vergleichbares keine grosse Investition. Um es einfach mal nur so zu testen, ist das sicher ausreichend.

Die Frage der Fragen lautet: Würde ich mir einen Compex kaufen? Ja, das kann ich mir durchaus vorstellen. Ich würde wohl den SP 4.0, das bessere der beiden kabelgebunden Modelle der Sport Linie kaufen. Das Gerät wird schon für unter 400 Euro angeboten und bietet eine Vielzahl an Erholungs- und Schmerzprogrammen an. Diesen Preis muss man im Prinzip auch mit zwei Sanitas vergleichen um auf die gleiche Anzahl von Kanälen zu kommen. Dann ist der Unterschied im Hinblick auf die ohne Frage bessere Qualität des Compex und der Mi-Features angemessen.

Zum Schluss nochmal vielemols Merci an CenterMed für die Erklärungen und das Test-Gerät, das war immens flott!

4 Kommentare:

  1. Hallo!

    Ein wirklich hilfreicher Artikel.
    Vorallem auch der Tipp mit dem Sanitas SEM erstmal zu testen.

    Wie lange und wie oft kann man die Geräte deines erachtens einsetzen?
    Z.B. 1h pro Woche oder 10min jeden Abend oder ...(abhängig von TENS oder EMS)?

    MfG Thomas

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    1. Hallo Thomas, die Geräte haben eine ganze Reihe von Programmen die im Fall des Sanitas zwischen 20 und 40 Minuten laufen. Ich habe auch schon mal zwei Programme hintereinander laufen lassen, z.B. Erst TENS und dann etwas zur Lockerung von Muskeln. Das kann man durchaus jeden Tag machen. Ich weiss nicht, ob es ein „Zuviel“ gibt und wo dies anfängt. Solange es angenehm ist, kann man wahrscheinlich nicht viel falsch machen. Etwas Übung erfordert die Plazierung der Elektroden. Da ist es unter Umständen hilfreich, einen Physiotherapeuten um Rat zu fragen. Ansonsten: einfach probieren. Wenn es nicht angenehm ist, ist es m.E. falsch.

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  2. Vielen herzlichen Dank für diesen endlich mal aufklärenden Artikel! Auf Firmenseiten findet man ausschließlich Loblieder und nie eine Erklärung. "Strom ist Strom, oder nicht?" ;-) Jetzt dann nicht mehr so ganz. Gruß Astrid

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  3. Hallo Thomas, wegen Deines Tests des "Endurance"-Programmes-wie hoch bist Du da denn mit den Reizen gegangen? Leider findet sich weder in den Betriebsanleitungen, noch irgendwo im Netz eine Erklärung, wofür etwa 578 steht. 578 Milliampère? 578 Kilogramm (im Muskelaufbau-Programm)? Da ich früher (bis Mitte Juni 2018) Krafttraining mittels Kniebeugen mit Curlstange vor der Brust gemacht habe (zum Schluß zwei Serien à 3 Sätzen mit 40 Wiederholungen und 25 kg Gewicht), habe ich nach einer Sitzung mit dem Compex SP 4.0 selbst im dritten Zyklus nie das Erschöpfungsgefühl wie früher nach dem "normalen" Krafttraining gehabt. Seit einer Woche mache ich zwei Sitzungen hintereinander, die erste wird vor dem Muskellockern am Ende abgebrochen. Danach erst habe ich wieder dieses Erschöpfungsgefühl. In der ersten Sitzung gehe ich bis etwa 330, die zweite beginne ich dann wieder bei 240 und gehe bis 550-580 (keine Ahnung ob das zuviel ist, das Gerät selbst kennt wohl keine Begrenzung). Im Ausdauerprogramm dürfte es ähnlich sein-die Reizhöhe ist entscheidend. Grüße Lars

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